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»FÜR EIN STARKES LEBEN«

natürlich HAMM Sommer 2022 – Seite 4

Rubrik: Titelthemen

Autorin: Meike Jänsch

WAS DAS URVERTRAUEN MIT UNS MACHT

Vertrauen hat eine große Bedeutung in unserem Leben. In der Freizeit und auf der Arbeit spielt es eine elementare Rolle. Manchmal bekommt das Vertrauen auch eine große Bühne geboten, wie etwa auf einer Hochzeit. Aber wie lernen wir, Vertrauen aufzubauen? Was passiert in unserem Körper und welche Folgen kann es haben, wenn wir es nicht schaffen, Vertrauen aufzubauen?

Kommt ein neuer Mensch zur Welt, wird er meistens umgehend der Mutter in die Arme gelegt. Danach übernimmt der Vater. In diesen Stunden lernen Kind und Eltern sich kennen und knüpfen die ersten Bande, aus denen das Vertrauen erwächst. „Bonding“ wird diese Phase genannt. Für das Neugeborene ist es der Anfang zum Aufbau des ersten Vertrauensverhältnisses – desjenigen zu den Eltern. Dieses Vertrauen wird auch Urvertrauen genannt.

Der Begriff „Urvertrauen“ stammt vom deutsch-amerikanischen Psychoanalytiker Erik H. Erikson. Es entsteht in der Kinderphase und bildet die Vertrauensfähigkeit des Menschen. Es geht dabei nicht nur um die Fähigkeit, anderen Menschen zu vertrauen, sondern auch um die Entwicklung des Vertrauens zu einem selbst.

Wickeln, Füttern, Kümmern

Ein Beispiel für die Entwicklung des Urvertrauens ist eine junge Familie mit einem Kind, das wenige Wochen alt ist. Wenn es schreit, kommen die Eltern zu ihm und schauen, was fehlt. Hat es Hunger? Ist die Windel nass? Vielleicht sind es auch Bauchschmerzen. Sie tun alles, um das Bedürfnis des Kindes zu befriedigen. Das Kind merkt dadurch, dass seine Bedürfnisse ernst genommen werden und dass es Personen gibt, denen es sich im Notfall zuwenden kann.

Es geht aber nicht nur um die Befriedigung der Grundbedürfnisse. Auch der Wunsch nach Geborgenheit und Liebe ist Teil der Entwicklung des Urvertrauens. Dieses Gefühl kann einem Neugeborenen am besten durch Haut- und Haarkontakt vermittelt werden. Es erfährt somit nicht nur Sicherheit, sondern auch die Bestätigung, dass es immer jemanden gibt, der für es da ist.

Die Erfüllung der kindlichen Bedürfnisse, das Spüren von Geborgenheit und Liebe durch Körperkontakt sind aber nicht die einzigen Möglichkeiten, um das Band zwischen Kind und Eltern zu stärken. Rituale sind für Kinder ebenso wichtig wie die Erfüllung der physischen und sozialen Bedürfnisse. Es sind dabei nicht nur die jährlichen Rituale, wie etwa zu Weihnachten oder an Geburtstagen, sondern auch die kleinen, alltäglichen Wiederholungen, die einem Kind festen Halt verschaffen. Dazu eignet sich etwa das Abendessen, das als gemeinsame Mahlzeit aller Familienmitglieder jeden Tag stattfinden kann. Das Zubettgehen kann ebenso mit Ritualen gefüllt werden, die die Vertrauensbildung des Kindes stärken, wie etwa das Vorlesen einer Gutenachtgeschichte oder gemeinsames Singen.

Das Urvertrauen ist dabei aber kein Phänomen, das sich nicht beweisen lässt. In der Medizin ist häufig nachgewiesen worden, dass ein enger Kontakt zwischen Kind und Eltern, auf beiden Seiten, zur Ausschüttung des Hormons Oxytocin führt. Dieses ist verantwortlich für die Bindungs- und Liebesfähigkeit eines Menschen.

Ein unerschütterliches Vertrauen

Das Urvertrauen wächst zwischen dem Kind und den Bezugspersonen, die in der Regel die Eltern darstellen. Ein Kind braucht diese Personen, um zu lernen, Vertrauen zu entwickeln. Für das Kind stehen sie wie kein anderer Mensch für Sicherheit und Kontinuität.

Wenn das Vertrauen stark ist, hält es auch kleine Fehlbarkeiten aus. Wenn etwa der Vater das Kind zehn Minuten später von der Kita abholt, weil er sich verspätet hat, weiß das Kind, dass es sich hierbei um eine Ausnahme handelt. Das Gleiche gilt auch, wenn das Abendessen später auf den Tisch kommt, weil vielleicht etwas angebrannt ist. Das Vertrauen des Kindes ist dadurch nicht geringer.

Das Urvertrauen zeichnet das Leben vor

Das Urvertrauen zwischen Kindern und Eltern zu bilden, ist nicht schwer, seine Bedeutung aber nicht zu unterschätzen. Menschen, die viel Urvertrauen aufbauen konnten, sind selbstbewusster und sicherer in ihrem Auftreten. Das beeinflusst auch ihren Umgang mit anderen Menschen.

Das ist bereits an der Kontaktaufnahme zu erkennen. Ob ein Mensch große Schwierigkeiten hat, fremde Menschen anzusprechen oder nicht, hängt in entscheidendem Maße vom Urvertrauen ab, das er bilden konnte. Für Menschen, bei denen es sich nicht ausprägen konnte, ist dieser Schritt eine größere Hürde. Sie sind unsicher in Bezug auf ihr eigenes Auftreten und neigen zu Misstrauen.

Da es diesen Leuten schwerer fällt, Kontakte aufzubauen und somit menschliche Beziehungen zu pflegen, sind sie auch anfälliger für psychische Krankheiten. Sehr häufig weisen sie Symptome einer Depression auf, wie etwa Appetitlosigkeit oder Schlafprobleme. Weitere Folgen eines geringen Urvertrauens sind Pessimismus und eine schlechte Bewältigung von negativen Erlebnissen. Alle diese Symptome und Auffälligkeiten können auf Probleme beim Aufbau des ersten Vertrauens im Leben zurückgeführt werden.

Die Folgen sind nicht unveränderbar, aber sie verlangen von der betroffenen Person viel Selbstüberwindung. Sie muss Dinge erlernen, die ein Mensch eigentlich in seiner Kindheit und Jugend lernt. So sind das Knüpfen von Kontakten und die Pflege von Freundschaften gute erste Schritte, um verloren geglaubtes Vertrauen zu gewinnen. Allein diese verlangen von den betroffenen Personen viel Überwindung, können aber mithilfe von Freunden und Familienmitgliedern gelingen.

Ungleich schwerer ist es mit dem positiven Denken. Das liegt an der mangelnden Resilienz, die Erwachsene haben, deren Urvertrauen sich nicht richtig entwickeln konnte. Die Resilienz bezeichnet die psychische Fähigkeit, Rückschläge und Niederlagen zu verarbeiten. Wer diese Fähigkeit nicht ausreichend besitzt, der kann schlechter negative Erlebnisse aushalten. Diese Person schützt sich dann davor, indem sie vor jeder Handlung mögliche negative Folgen abwägt. Es entsteht ein negatives Denken. Diese Denkweise in das komplette Gegenteil zu bewegen, verlangt sehr viel Zeit, Geduld und Einfühlungsvermögen, weswegen eine professionelle Unterstützung fast immer notwendig ist.

Erschütterung für das Urvertrauen

Es ist nicht viel, was Eltern machen müssen, um diese tiefe Verbindung eines Kindes zu erlangen. Wie eben zuvor beschrieben, sind das Kümmern um das Kind und die Befriedigung von dessen Bedürfnissen ausschlaggebend für diese Verbindung. Es gibt aber auch Dinge, die das Vertrauen des Kindes zu den Eltern oder zu den Bezugspersonen nachhaltig erschüttern.

Den ersten Eindruck, den ein Kind vom Leben bekommt, bestimmt das familiäre Umfeld. Sichere soziale Verhältnisse schaffen einen guten Rahmen, in denen das Urvertrauen wachsen kann. Widerfahren der Familie viele Schicksalsschläge oder muss sie häufiger den Wohnort wechseln, kann es vorkommen, dass das Kind nicht die Sicherheit im gewohnten Maße kennenlernt. Wichtiger aber noch als das soziale Umfeld sind die Bezugspersonen. Sie sind die ersten Partner im Leben des Kindes. Sie sorgen sich um das junge Leben und stillen dessen Bedürfnisse. Es gibt allerdings Schicksalsschläge, die eine Bezugsperson aus dem Leben des Kindes reißen. Tritt an dessen Stelle eine andere Person in sein Leben, kann es sein, dass es dieses Urvertrauen nicht mehr aufbauen kann.

Es ist allerdings nicht gesagt, dass die Person, die anstelle einer Bindungsperson in das Leben eines Kindes tritt, diese nicht auch ersetzen kann. Dafür muss das Kind erkennen, dass seine Bedürfnisse immer noch in ausreichendem Maße erfüllt werden. Es darf aber auch weiterhin keine traumatisierenden Erlebnisse, wie anhaltende Lieblosigkeit, Missbrauch oder Ähnliches, erfahren. Diese erschüttern die Vertrauensfähigkeit nachhaltig und haben dadurch Auswirkungen auf das Leben als Erwachsener.

Probleme rechtzeitig erkennen

Dass Kinder nicht das notwendige Vertrauen spüren, muss nicht an gefühlskalten Eltern liegen. So können etwa Mütter Probleme haben, eine Verbindung zu ihrem Neugeborenen herzustellen, wenn sie selber belastet sind. Das können ungelöste Beziehungsschwierigkeiten in der Partnerschaft ebenso sein wie Probleme mit der eigenen Familie. Alles, was die Mutter in den Wochen vor und nach der Geburt stresst oder anderweitig psychisch belastet, kann die erste Bildungsphase des Urvertrauens beeinträchtigen. Selbiges gilt auch für die postnatale Depression („Wochenbettdepression“). Diese tritt bei Müttern auf, wenn sie die Geburt mit negativen Erlebnissen, etwa durch Komplikationen, verbinden. Sie sind ein häufiger Grund, weswegen sich viele werdende Mütter für herkömmliche Geburtsvarianten entscheiden.

Sollten Mütter in dieser frühen Phase feststellen, dass sie nicht die notwendige Bindung zu ihrem Kind aufbauen können, können die Partner, die Hebamme oder auch der Kinderarzt Unterstützung anbieten.

Ein weiteres Problem für die Bindung kann ein unsicheres Verhältnis zu den eigenen Eltern sein. Jemand, der selbst als Kind keine bedingungslose Liebe von seinen Eltern erfahren hat, kann Schwierigkeiten haben, diese später seinen eigenen Kindern zu geben. Auch hier ist es wichtig, das Problem schön früh anzusprechen. Hier kann die Unterstützung einer familienpsychologischen Beratungsstelle weiterhelfen.

Je später Probleme realisiert werden, desto schwieriger sind sie zu beheben. Bereits im Kleinkindalter kann eine Phase, in der die Empfindungen und körperlichen Bedürfnisse des Kindes nicht ausreichend befriedigt werden, zu Anzeichen von fehlendem Urvertrauen führen. Ist der Nachwuchs schnell gereizt, gibt schnell auf oder ist misstrauisch gegenüber Menschen und neuen Dingen, kann es sein, dass das Urvertrauen gelitten hat.

Gemeinsam schöne Erinnerungen schaffen

Es ist bereits erwähnt worden, dass es verschiedene Erlebnisse gibt, die das kindliche Urvertrauen beeinträchtigen können. Sehr häufig sind es Situationen, in denen das Kind meint, allein zu sein und selbst mit dem Schicksalsschlag zurechtkommen zu müssen.

Es sind Momente der Einsamkeit, die das Urvertrauen stören und die Entwicklung des Menschen beeinflussen. Experten können zwar dem Kind helfen, die Situationen zu verarbeiten und wieder Vertrauen zu fassen, aber eine perfekte Lösung können sie nicht bieten. Am besten ist es, die Probleme gemeinsam als Familie anzugehen, etwa im gemeinsamen Erleben von schönen Momenten.

Ein gutes Beispiel ist der Sport. Wenn Eltern und Kinder gemeinsam das Laufen anfangen, sorgen kleine Ziele nicht nur für die anfängliche Motivation, sondern können auch das Selbstvertrauen stärken. Je nach Alter und Leistungsfähigkeit des Kindes kann das Schaffen einer Distanz immer als ein Ziel formuliert werden. Das ließe sich auch leicht immer wieder höher stecken, wenn eine Distanz erfolgreich absolviert worden ist. So könnte auf die 400 Meter die Strecke von 600 Metern folgen.

Es muss aber nicht der sportliche Erfolg sein. Schöne Momente können auch durch andere Erlebnisse erzeugt werden. Gemeinsame Urlaube und Ausflüge sind fast immer Garanten dafür. Hier lernen sich die Familienmitglieder von einer anderen Seite kennen, als es im Alltag möglich ist. Dadurch entstehen andere Dynamiken, die sich positiv auf die Vertrauensentwicklung auswirken können.

Die Bindung zwischen Bezugsperson und Kind kann ebenso anhand eines gemeinsamen Hobbys gestärkt werden. In vielen Fällen handelt es sich dabei um eine Beschäftigung, die die Bezugsperson schon länger ausführt und für die sich das Kind auch interessiert. Dann kann über eine klassische Lehrer-Schüler-Situation das Vertrauen des Kindes gestärkt werden, indem ihm zur Seite gestanden und die Freiheit gegeben wird, eigene Erfahrungen im Hobby zu sammeln. Es gibt aber auch die Möglichkeit, gemeinsam einer neuen Freizeitbeschäftigung nachzugehen. Bezugsperson und Kind begeben sich dann beide auf eine Entdeckungstour und sammeln gemeinsam erste Erfahrungen. So entstehen auch Momente, die das Vertrauen zueinander stärken können.

Die Umgebung des Kindes übt ebenfalls einen großen Einfluss aus

Wenn Kinder Anzeichen einer entsprechenden Vernachlässigung zeigen, muss es aber nicht bedeuten, dass diese tatsächlich existiert. Viele Eltern stellen sich dann die Frage, was sie besser machen können. Sie suchen den Fehler bei sich und ihren Erziehungsmethoden. „Haben wir das Kind zu sehr verwöhnt?“, „Waren wir zu streng?“ sind Fragen, die sich Erziehungsberechtigte dann unweigerlich stellen.

Was Eltern dabei häufig vergessen, ist, dass sich der Personenkreis, nach dessen Anerkennung sich das Kind sehnt, im Laufe der Jahre ändert. In den ersten Lebensjahren besteht dieser Personenkreis aus den Eltern. Sie geben dem Kind Nahrung, Zuneigung und Sicherheit, wie es vorher schon beschrieben worden ist, und erlangen deswegen schon früh einen besonderen Platz im Leben des Kindes. Dieser Personenkreis wird aber größer. Erzieher in der Kita, Lehrer in der Schule, Trainer im Sportverein und Freunde haben unterschiedliche Erwartungshaltungen an den jungen Menschen. Diesen allen gerecht zu werden, muss das Kind zunächst lernen. Wenn es merkt, dass es einem Anspruch nicht entsprechen kann, sind u. a. aggressives Verhalten und Isolation mögliche Verhaltensmuster. Die Bezugspersonen sollten dann versuchen, das Umfeld des Kindes so weit zu ändern, wie es möglich ist. Vielleicht ist die Sportart im Verein nicht die richtige für das Kind? Vielleicht liegen die schlechten Schulnoten an der Klassendynamik? Eltern und Bezugspersonen sollten daher auch das Gespräch mit Lehrern, Trainern oder Eltern von Freunden suchen, wenn sie entsprechende Verhaltensmuster am Kind erkennen. Gemeinsam können Lösungen zur Veränderung der Umgebung gefunden werden. Bei vielen Kindern zeigt sich dadurch schon eine positive Veränderung. Sie blühen auf und legen eine unerwartete Widerstandsfähigkeit an den Tag.

Das Urvertrauen ist elementar für die charakterliche Bildung des Menschen. Es macht ihn stark, hilft beim Verarbeiten von Niederlagen und bestimmt den Umgang mit anderen Menschen. Verloren gegangenes Urvertrauen wieder aufzubauen ist sehr schwer und stellt auch Therapeuten und Mediziner vor eine große Herausforderung. Bezugspersonen, Freunde und Familie können aber dabei helfen, den Menschen trotzdem zu stärken und ihn die positiven Seiten des Lebens sehen zu lassen. Denn die gibt es, ganz gleich, wie trübe alles erscheint.