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»Vom "inneren Arzt" zum "äußeren Arzt"«

natürlich HAMM Frühling 2022 – Seite 11

Rubrik: Titelthemen

Autor: Lukas Rummeny

Prof. Dr. med. Tobias Esch zur integrativen Medizin

„Ganzheitliche Medizin“ – das hört sich gut an. Im Grunde genommen scheint es ein treffenderer Begriff für Allgemeinmedizin zu sein, oder? Es geht doch um das „Ganze“, also auch um das „Allgemeine“, oder? Das stimmt so nicht, erklärt uns der Gesundheitsforscher und Arzt Prof. Dr. med. Tobias Esch.

Wenn wir einen Arzt aufsuchen, wollen wir von Schmerzen und Symptomen befreit werden. Dafür lassen wir, die Patienten, viel über uns ergehen: von einem Gespräch über unsere Krankengeschichte bis hin zu Untersuchungsmethoden an unserem Körper. Die Mediziner stellen in der Regel eine Diagnose und verschreiben uns Medikamente oder auch Therapien, die uns helfen sollen und die Beschwerden lindern.

So sieht, in der Regel, ein Besuch beim Arzt aus. Der Mediziner beschäftigt sich mit der Krankheit, während der Patient mit seiner Geschichte und seinen Bedürfnissen nur eine Nebenrolle spielt. Nach der Sichtweise der ganzheitlichen Medizin sollte der Patient im Mittelpunkt stehen. Er/Sie nimmt wahr, dass etwas am Körper nicht in Ordnung ist, und sucht zur Abklärung einen Arzt auf. Wer sich dagegen wohlfühlt und nicht zu einer Kontrolluntersuchung muss, sieht in der Regel keine Notwendigkeit für einen Arztbesuch. Der erste Schritt geht immer vom Patienten aus.

Tobias Esch ist Professor für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Universität Witten/Herdecke. Im Interview erklärt er uns, was eine „ganzheitliche Medizin“ ausmacht und warum eine medizinische Untersuchung ein aktiver Arzt-Patienten-Austausch sein sollte.

Herr Prof. Dr. Esch, wer sich über integrative Medizin informiert, der erfährt schnell, dass der Patient ein wichtiger Faktor ist. Ganz provokativ gefragt: Sollte das nicht der Normalfall sein?

Ja, das sollte man meinen. Doch in der Realität hat sich die moderne Medizin stets darum bemüht, den individuellen Faktor mehr oder weniger auszuschließen, um über eine gute Beweisführung den bestmöglichen Standard – wissenschaftlich begründet – finden zu können. Das beste Mittel, die beste Dosierung, die für die allermeisten Menschen funktionieren würden. Dabei ist das Individuelle, das, was ich den „inneren Arzt“ nenne, zunehmend in den Hintergrund geraten. Beim Placeboeffekt sehen wir es noch.

Ein wichtiger Punkt in der Patientengeschichte ist sein soziales Umfeld. Wie groß schätzen Sie dessen Wirkung auf die Gesundheit eines ­Menschen ein?

Die soziale Komponente ist kaum zu unterschätzen. Die Frage eines „Eingebettetseins“, einer guten sozialen Unterstützung, ist ein wesentlicher Faktor auch für eine gute Gesundheit. In der Prävention von vielen Erkrankungen, genauso in der Behandlung, spielt das Umfeld eine große Rolle. Dabei geht es nicht nur darum, Hilfe im Krankheitsfall zu haben – sondern die soziale Einbettung ist für sich allein schon bedeutsam, sie kann ganz eigenständig eine heilende, gesundheitsförderliche Wirkung haben. Oder das Gegenteil davon. Viele Studien haben das mittlerweile eindrücklich belegt. Eine günstige soziale Komponente schlägt sich etwa in einer höheren Lebenserwartung – einem längeren und guten Leben – nieder. Dieser Befund hat jüngst dazu geführt, dass wir vorgeschlagen haben, das Gefühl von „Beheimatetsein“ – einer Art Verwurzelung auch im kulturellen Raum – als eine Erweiterung unseres Verständnisses von Gesundheit mit in die ­Medizin aufzunehmen.

Die einen Menschen schwören auf die Schul­medizin, die anderen auf Naturheilkunde. Die integrative Medizin will das Beste von beiden Varianten vereinen. Dabei treffen aber auch unterschiedliche Ansätze aufeinander. Gibt es deswegen „No-Gos“, die in der integrativen Medizin keinen Eingang finden?

Die Vorstellung, dass es eine Schulmedizin und eine Alternativmedizin gäbe oder eine Naturheilkunde als Gegensatz zur Schulmedizin, haben wir heute glücklicherweise verlassen. Ich selbst nutze Begriffe wie „Schulmedizin“ oder „Alternativmedizin“ überhaupt nicht. Für mich gibt es letztlich nur eine „gute“ Medizin. Diese wäre wissenschaftlich begründet und vom Wesen her integrativ. So ist auch die integrative Medizin nicht mehr zu verstehen als eine Verbindung von zwei unterschiedlichen Welten. Ganz im Gegenteil geht es heute mehr darum, den „äußeren Arzt“, das heißt die medizinische Expertise, mit dem „inneren Arzt“, der Selbstheilung und Selbstregulation, zu verbinden. Grundsätzlich gibt es daher praktisch keine ­„No-Gos“, denn die Tendenz zur Regulation bzw. die Tatsache, dass Selbstheilung ein bio­logisches Prinzip ist, bleibt prinzipiell, also ­theoretisch, immer erhalten – auch in der Krankheit. Nur reicht die Selbstregulation – die Selbstheilung oder auch der Placeboeffekt – mitunter nicht aus. Deswegen sollten innerer und äußerer Arzt immer Hand in Hand arbeiten, sich nicht gegenseitig ausschließen, „alternativ“ oder „alternativlos“ zueinander sein – das wäre ein „No-Go“. Sie sollten sich idealerweise ergänzen. Je nach Schweregrad hat der/die eine oder andere das Zepter in der Hand. Natürlich würden wir bei komplizierten Knochenbrüchen, auch bei Krebserkrankungen und anderen schwerwiegenden Zuständen, wo die Selbst­regulation mitunter nicht ausreicht oder schlicht überfordert ist, auf den äußeren Arzt zurückgreifen wollen. Das nicht zu tun, wäre fahrlässig.

Welche Punkte der integrativen Medizin können Laien übernehmen, um Krankheiten vorzu­-
beugen?

Wir können durchaus auf die gut bekannten Hausmittel verweisen. Für viele gibt es immer mehr wissenschaftliche Beweise. Grundsätzlich arbeiten wir bei der Gesundheitsförderung und der Aktivierung des inneren Arztes nach dem sogenannten BERN-Prinzip, welches ich seinerzeit aus den USA, wo ich an der Harvard Medical School als Wissenschaftler gearbeitet habe, mitgebracht habe. Hier geht es um Behavior ­(Verhalten), Exercise (Bewegung), Relaxation (Entspannung) und Nutrition (Ernährung). Die jeweils ersten Buchstaben der englischen Begriffe ergeben schließlich BERN. Beim Ver­halten etwa geht es um die bereits besprochene soziale Komponente – Dinge, die Freude machen, ein gutes Umfeld, positives Denken und Handeln. Bei der Bewegung um eine regelmäßige körperliche Aktivität im Alltag. Bei der Entspannung etwa um Meditation, Achtsamkeit, tägliche Momente der inneren Einkehr. Und bei der Ernährung schließlich geht es um eine gesunde, ausgewogene Kost, auch Phasen der bewussten Nahrungskarenz, etwa das Intervallfasten.

Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Sie lehren an der Universität Witten/Herdecke auch im Bereich der Integrativen Gesundheitsförderung. Was ist das Besondere an diesem Bereich, im Vergleich zu anderen Themen eines Medizinstudiums?

Wie ich bereits gesagt habe, geht es hier um die Stärkung des inneren Arztes. In der Medizin sind wir normalerweise Experten – und wollen es auch sein, sollen wir auch! –, das Kranke zu behandeln, es so früh wie möglich zu erkennen, idealerweise zu beseitigen. Auch wollen wir die Risikofaktoren kennen und ausschalten. Wir nennen das auch die „pathogenetische“ Perspektive, weil eben das Kranke, das Patholo­gische im Vordergrund steht. Was wir jedoch im Medizinstudium bisher nur selten (bis gar nicht) lernen oder lehren, ist die Sicht auf das Gesunde: Die „salutogenen“ Ressourcen. Das kommt vom lateinischen Begriff „salus“ – Heil oder eben „Gesundheit“. Was stärkt unsere Widerstandskräfte? Was schützt unsere Gesundheit? Wie reduzieren wir Belastungen? Wie ich es auch in meinem Buch „Der Selbstheilungscode“ beschreibe, steht hier nicht eine einzelne Krankheit im Vordergrund, sondern das Prinzip, den inneren Arzt zu stärken, sich ein dickeres Fell zuzulegen, die Selbstregulation und Abwehrbereitschaft zu stärken. Bei uns in Witten bringen wir diese Dinge tatsächlich ins Medizinstudium ein, wie auch in die von mir am Campus gegründete Universitätsambulanz – und ich bin sehr froh, dass wir nun immer mehr Nachahmer finden.

29.01.2019 Foto: Lukas Schulze

Kurzvita Prof. Dr. med. Tobias Esch

Seit 2016 ist der Allgemeinmediziner, Neurowissenschaftler und Gesundheitsforscher Tobias Esch Lehrstuhlinhaber und Leiter des Instituts für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Universität Witten/Herdecke. 1999 promovierte Esch zu einem zellularen Stressmodell in der experimentellen Gesundheitsforschung. Es folgten fünf Jahre, in denen er als Assistenzarzt und wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Universitäten und Hochschulen arbeitete. Zudem war Esch Postdoktorand an der Harvard Medical School und bis 2015 Gastwissenschaftler an der State University of New York. 2004 legte er seine Facharztprüfung zum Allgemeinmediziner mit der Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren ab. Nach einem Jahr als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Charité folgte 2006 der Ruf zum Professor an der Hochschule Coburg im Bereich Gesundheitsförderung/Humanwissenschaften. Von 2010 bis 2015 war Esch ebenda Fachleiter des Referats Gesunde Hochschule. Während seiner Habilitation an der Universität Duisburg-Essen übernahm Tobias Esch eine Universitätsprofessur und die Leitung des Instituts für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Universität Witten/Herdecke.

In der Öffentlichkeit erläutert Tobias Esch die Selbstheilungspotenziale des menschlichen Körpers. In TV, Radio, Podcast und Büchern führt er aus, warum Glück und Zufriedenheit wesentliche Faktoren für ein gesundes Leben sind. Zudem setzt er sich für eine aktive Einbindung des Patienten in die Behandlung und eine transparente Arzt-Patienten-Beziehung ein.