fbpx

»IN DER PRAXIS VON DR. GOOGLE«

natürlich HAMM Herbst 2022 – Seite 30

Rubrik: natürlichDIGITAL

Autor:
LR

Sinn und Unsinn der Selbstdiagnose im Internet

Der menschliche Körper befindet sich in einem ständigen Prozess. Das führt dazu, dass er ständig Signale von sich gibt, etwa auch wenn etwas fehlt. Diese werden als Symptome bezeichnet und sind für uns Alarmsignale. Kopfschmerzen, Husten, Jucken etc. sagen uns, dass etwas nicht ganz richtig funktioniert. Auf der Suche nach dem Fehler benutzen immer mehr Menschen das Internet und geben ihr Symptom in generelle Suchmaschinen ein. Aber wie vertrauenswürdig sind „Dr. Google“ und seine Kollegen? Und wie können Laien mit dem Internet als Aufklärungswerkzeug bei Krankheiten richtig umgehen?

Kennen Sie den Pschyrembel? Es ist ein klinisches Wörterbuch, in dem Krankheiten und Symptome lexikalisch geordnet zu finden sind. Voll mit medizinischen Fachbegriffen und eindeutigen Abbildungen, ist oder war der Pschyrembel ein Pflichtgegenstand in jeder Arztpraxis, in jedem Büro, in jeder medizinischen Bibliothek oder auf den Schreibtischen von Medizinstudenten. Wer den Pschyrembel zwischen dem Diercke Weltatlas und dem Duden im Bücherregal hatte und nicht im medizinischen Bereich tätig war, der war höchstwahrscheinlich ein Hypochonder. Jede Aufmerksamkeit des Körpers wurde nachgeschlagen und über Stunden gesucht, bis vielleicht ein „Krankheitsbild“ erstellt werden konnte – ganz ohne Arzt.

Heute ist alles digitaler. Der dicke Pschyrembel ist dem Internetanschluss gewichen. Heute hockt der Hypochonder vor dem Bildschirm und bastelt sich seine Diagnose aus dem Internet zusammen. Er ist jetzt ein „Cyberchonder“. Cyberchondrie ist die digitale Form der Hypochondrie und hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen. So verzeichnet etwa Google in Deutschland seit 2011 einen deutlichen Anstieg von Suchanfragen, die die Begriffe „Kopfschmerzen“ oder „Husten“ beinhalten. Das beweist, dass der digitale Weg zur gesundheitlichen Aufklärung für uns immer normaler wird. Trotzdem ist niemand davor geschützt, sich zu sehr zu vertiefen.

Das Internet als Wissens- und Gefahrenquelle

Grundsätzlich stellt das auch kein Problem dar. Das Internet sorgt dafür, dass Wissen immer mehr Menschen zur Verfügung steht. Viele Informa­tionsangebote geben die Möglichkeit, dass wir unser Wissen miteinfließen lassen können. Somit können wir nicht nur Fachwissen für unsere „Selbstdiagnose“ erlangen, sondern erfahren auch gute Hausmittel dagegen.

Allerdings sorgen dieses Mitwirken und die Anonymität des Netzwerks dafür, dass viele Menschen ihre falschen Fakten als seriöse Erkenntnisse verkaufen können. Es fehlt, teilweise, die wissenschaftliche Kontrolle.

Enttäuschungen und Wut können fatale Folgen haben

Warum werden dann aber immer mehr Menschen zu „Cyberchondern“ oder vertrauen Dr. Google blind? Ein Argument ist eben schon genannt worden: das Misstrauen gegenüber Ärzten. Das sog. Bild der „Götter in Weiß“ impliziert eine Fehler­losigkeit der Mediziner, die unmöglich ist. Auch Ärzte sind Menschen, die Fehler machen, auch wenn diese in ihrem Beruf die schwerwiegendsten Folgen haben. Sie haben zwar gelernt, äußerst sorgfältig und mit größtem Bedacht zu arbeiten, aber trotzdem sind Fehler nicht ausgeschlossen.

Oft geht das Misstrauen so weit, dass Betroffene ihre Meinungen im Internet kundtun und medizinische Berufsstände in ein falsches Licht rücken. Andere Internetnutzer glauben das und gehen mit ihren Diagnosen zum Arzt, nur um diesem vehement zu widersprechen. Diese Fälle sind nicht die Regel, aber kommen vor, wenn Frustration und mangelnde Medienkompetenz aufeinandertreffen. Die meisten Patienten sehen ihre Fehleinschätzung ein, wenn sie mit ihrem Arzt reden.

Gefährliche Schnittstellen

Das Internet ist Teil unseres Alltags geworden. Die Schnittstellen zwischen dem realen und dem digitalen Leben werden zunehmend mehr. Viele davon sind sehr praktisch und erleichtern unser alltägliches Leben. Aber wo Licht ist, gibt es auch Schatten. Die unbedachte Recherche nach Symp­tomen ist ein Schattenfleck, der in der „Cyberchondrie“ enden kann, aber genau dort kann es noch dunkler werden. Das liegt an der (Selbst-)Manipulierbarkeit des Menschen. Beschäftigt er sich zu einschlägig mit einem Thema, ist er für Argumente und Informationen der anderen Seite nicht mehr empfänglich und entwickelt negative Gedanken. Diese erschweren tatsächlich den Selbstheilungsprozess des Körpers und machen ihn empfänglicher für Krankheiten. Dieses Phänomen wird der „Nocebo-Effekt“ genannt, die negative Variante des Placebo-Effekts.

Richtig recherchieren

Eine Online-Suche bei Unwohlsein oder dem Auftreten eines Symptoms ist per se nicht schlecht. In modernen Gesellschaften dürfen wir uns informieren. Allerdings ist es eine Frage, wo wir das tun. Internetseiten mit einer hohen Interaktivität, wie soziale Medien (einschließlich WhatsApp), sind bei solchen Themen ungeeignet. Schnell werden die Diskussionen polemisch geführt, von „unechten“ Profilen (sog. Bots) gelenkt, und die Verwendung von gefälschten Profilen schafft ­wieder eine bedenkliche Anonymität. Wer sich tatsächlich fundiert informieren möchte, der findet zertifizierte Internetseiten zu Gesundheitsthemen, die gesichertes Wissen verständlich erklären. Diese sind etwa von der Health on the Net Foundation (HOTN) zertifiziert. Die Schweizer Stiftung arbeitet eng mit verschiedenen politischen Organisationen und Gremien, wie der EU-Kommission oder der Weltgesundheitsorganisation (WHO), zusammen. Sie zertifiziert Gesundheitsseiten in Bezug auf ihre wissenschaftliche Richtigkeit, Neutralität und Nachvollziehbarkeit. Allerdings müssen sich die Seiten für eine Zertifizierung entgeltlich anmelden, weswegen manche darauf verzichten. Andere gute Seiten für die Gesundheitsrecherche finden Sie im Infokasten.

Wir sollten für unsere Gesundheit die Schnittstellen der realen und der digitalen Welt nutzen. Wir informieren uns im Internet, mit aller angebrachten Aufmerksamkeit, über die Krankheit, aber verzichten nicht auf die Expertise eines realen Arztes. Denn nur dann können wir die Diagnose von „Dr. Google“ auf den Prüfstand stellen.