fbpx

»ES IST NICHT DAMIT GETAN, SCHMERZEN ZU BETÄUBEN, SONDERN NACHHALTIG DIE SCHMERZKRANKHEIT AUSZUSCHALTEN«

natürlich HAMM Herbst 2022 – Seite 7

Rubrik: Titelthemen

Autor:
LR

Was die Schmerzmedizin ausmacht und wie es um ihre Akzeptanz steht

Zu den vielen Signalen, die unser Gehirn erreichen, gehören auch die Schmerzen. Erst dort nehmen wir den Schmerz wahr, merken seine Intensität und wo er sich tatsächlich befindet. Schmerzen zeigen uns an, dass irgendwas in unserem Körper nicht stimmt. Gibt es vielleicht eine offene Wunde, die mit einem Pflaster behandelt werden muss? Zieht der Muskel von der körper­lichen Arbeit so stark, dass wir uns ausruhen müssen? – Was ist aber, wenn die Schmerzen über längere Phasen anhalten und selbst zur Krankheit werden? Schmerzmediziner Dr. Heinrich Binsfeld erläutert uns die Arbeit in der Schmerzmedizin und wo es in Deutschland in diesem Bereich Nachhol­bedarf gibt.

Schmerzempfinden ist grundsätzlich ein subjektives Gefühl. Welche objektiven Maßstäbe können Sie in Ihrer medizinischen Praxis nutzen, um dieses „Gefühl“ zu bewerten und als „behandlungs­würdig“ einzustufen?

Schmerzen werden unterschieden in akute Schmerzen, die eine Warnfunktion des Körpers darstellen, und chronische Schmerzen, die älter als sechs Monate sind und keine Warnfunktion mehr darstellen. Bei der chronischen Schmerzkrankheit ist ein eigenes Krankheitsbild entstanden, das sich als Schmerzgedächtnis im Gehirn durch strukturelle Veränderungen der Nervenbahnen und molekulare Veränderungen abgespeichert hat. Mit dem Mainzer Stadienmodell des chronischen Schmerzes, dem sogenannten Gerbershagen-Fragebogen, lässt sich in der Praxis leicht verifizieren, ob ein Schmerz chronisch oder akut ist, ebenso lässt sich damit feststellen, wie weit die Chronifizierung schon fortgeschritten ist. Die Stadieneinteilung nach ­Gerbershagen ermöglicht je nach Stadium der Erkrankung eine passgenaue Einstufung der möglichen therapeutischen Optionen.

Wie hat sich das Schmerzempfinden der Menschen in den letzten Jahren verändert? Sind wir heute „wehleidiger“ als frühere Generationen?

Das Schmerzverhalten der Menschen hat sich nicht verändert, alle internationalen Studien belegen, dass das Schmerzverhalten über die Jahre gleich geblieben ist. Nur unser Wissen über die Schmerzkrankheit hat zugenommen, diese Erkenntnis macht auch bei den Patienten, die betroffen sind, nicht halt, sodass immer mehr Schmerzpatienten eine Behandlung ihrer Schmerzen suchen.

Wie kann man Ihre Aufgabe als Schmerzmediziner beschreiben? Betäuben Sie eher die Schmerzen Ihrer Patienten oder verstehen Sie sich als inter­disziplinärer Teil in der Ursachenforschung und -behandlung?

Die Unterscheidung zwischen akuten Schmerzen und chronischen Schmerzen ist in der Theo­rie sehr einfach, in der Praxis stelle ich aber fest, dass viele chronische Schmerzen auch noch zum Teil Anteile von akuten Schmerzen aufweisen, diese müssen behandelt werden, damit die chronischen Schmerzen auch dauerhaft ausgeschaltet werden. Es ist nicht damit getan, Schmerzen zu betäuben, sondern nachhaltig über lange Zeit die Schmerzkrankheit auszuschalten. Deshalb steht am Anfang jeder Behandlung zuerst eine ausführliche Diagnose. Nur bei genauer Diagnosestellung ist der Behandlungserfolg später nicht rein zufällig. Das heißt, eine reine Betäubung ist keine Schmerztherapie, sondern die Regulierung der Ursachen ist notwendig, um dann auch gezielt die therapeutischen Maßnahmen einzuleiten.

Wir alle wissen, wie sich Schmerzen anfühlen. Sie kümmern sich in Ihrer Praxis um Menschen, die unter chronischen Schmerzen leiden. Wie arbeiten Sie mit einem Patienten, der zum ersten Mal Ihre Hilfe erfragt?

Nach Durchsicht der zuvor zugeschickten Unterlagen, zu denen auch der Schmerzfragebogen und psychometrische Tests gehören, findet ein Erstgespräch statt. Darin werden die mitgebrachten Befunde besprochen, die Notwendigkeit einer weiteren Diagnostik erklärt, über die einzelnen Punkte dieser Diagnostik gesprochen und der Patient erhält einen Brief an seinen Hausarzt / seine Hausärztin, damit für alle klar ist, welche Wege gemeinsam gegangen werden müssen – das sogenannte Schmerzassessment. Das Praxisteam kümmert sich um alle notwendigen Termine, auch Überweisungstermine zu anderen Spezialisten, damit zeitnah ohne Verzögerung die Diagnostik laufen kann. So fällt auch das Warten bei Überweisungsterminen weg.

Jeder Patient ist individuell und braucht eine auf ihn speziell abgestimmte Therapie. Können Sie uns beispielhaft schildern, wie lange eine Behandlung in einem Schmerzzentrum ungefähr dauert und wie eine Behandlung aussehen könnte?

Wie Sie schon gefragt haben, jeder Patient ist individuell zu betrachten, jeder Patient bekommt sein eigenes individuelles Schmerzassessment, je nach Aufwand des Schmerz­assessments dauert es 4–6 Wochen, bis alle notwendigen Befunde vorliegen, erst dann kann nach einem ausführlichen Gespräch der Befunde und der möglichen Therapieoptionen eine Behandlung erfolgen. Wohlgemerkt, der Patient entscheidet immer selbst, welche Therapieoptionen durchgeführt werden. Ich schlage Therapien vor, der Patient muss aber selbst entscheiden, welche Therapieangebote er nutzen will.

Hat es in der Pandemie einen Anstieg der Schmerzpatienten gegeben? Wie erklären Sie sich den Trend?

Grundsätzlich hat sich der Trend nicht verstärkt, neu hinzugekommen sind Patienten mit einem Post-Covid-Syndrom, die häufig über Schmerzen klagen. Eine Trendveränderung ist deshalb schwer zu erkennen, weil in der Bundesrepublik Deutschland bei 83 Millionen Einwohnern nur 1299 qualifizierte niedergelassene Schmerztherapeuten tätig sind. Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin fordert deshalb schon seit Jahren einen Facharzt für Schmerzmedizin, damit flächendeckend in der BRD eine qualifizierte Schmerzmedizin stattfinden kann. Bei nur 1299 Kollegen, die sich qualifiziert, also von der kassenärztlichen Vereinigung anerkannt, um Schmerzkranke kümmern, ist es eine heroische Aufgabe, den Andrang an Schmerzpatienten zu bewältigen. Je nach Einrichtung liegen die Wartezeiten zwischen 3 und 6 Monaten.

Das Ziel eines Schmerzmediziners ist es, den Patienten von seinen Schmerzen zu befreien. Sie sind auch Facharzt für Anästhesie. Viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen in der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) sind Palliativmediziner. Beides sind medizinische Fachbereiche, in denen die Schmerzminderung oder -vermeidung eine wesentliche Rolle spielt. Braucht es da noch die Schmerzmedizin als einen eigenen Fachbereich?

Eindeutig ja, seriöse Statistiken belegen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland zurzeit aktuell 3,6 Millionen Schwerstschmerzkranke haben, die unter ständigen Schmerzen leiden, und zusätzlich Schmerzkranke, die in regelmäßigen Abständen Schmerzprobleme haben, sodass wir insgesamt über 20 Millionen Schmerzpatienten betreuen müssen. Aktuell fehlen in Deutschland 10.000 qualifizierte Schmerzmediziner. Die Versorgung von über 20 Millionen Schmerzkranken bewältigen im Augenblick genau 1299 qualifizierte Schmerz-mediziner. Dies ist eine heroische Aufgabe und kann auf Dauer nicht gut gehen. Daher ist es dringend notwendig, dafür zu sorgen, dass flächendeckend in der gesamten Bundesrepublik Deutschland Schmerzkranke betreut werden. Dieses ist nur über einen Facharzt für Schmerzmedizin möglich. Ich selbst bin Schmerzmediziner sowie Facharzt für Innere Medizin und Anästhesiologie und erlebe als Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin täglich, wie schwierig es ist, geeignete schnelle Therapiemöglichkeiten zu bekommen. In einer spezialisierten Schmerzklinik liegen die Wartezeiten zwischen 3 Monaten und 18 Monaten. Eine flächendeckende schmerz-medizinische Versorgung in der BRD ist nur möglich mit der Schaffung eines Facharztes für Schmerzmedizin, nur dann ist die Politik gezwungen, die Möglichkeiten zu schaffen, dass auch überall in der Republik die Möglichkeiten zur Behandlung chronischer Schmerzen vorhanden sind. Noch einen Tipp: Wenn ein ganz schneller Termin für eine Schmerzpatientin oder einen Schmerzpatienten notwen-
dig ist, möge die Kollegin oder der Kollege direkt eine Schmerzmedizinerin oder einen Schmerzmediziner kontaktieren, dann wird im direkten Gespräch möglichst ein zügiger Behandlungstermin vereinbart. Keine Schmerzmedizinerin und kein Schmerzmediziner wird das Gesuch einer Kollegin oder eines Kollegen abweisen. Aber viel zu selten wird diese Möglichkeit genutzt.

In Deutschland wird statistisch sehr oft operiert. Von vielen Seiten kommt daher Kritik an der Arbeit der Mediziner in den Kliniken. Vielfach kommen Zweifel auf, ob wirklich jede Operation unausweichlich ist. Kann die Schmerzmedizin helfen, die OP-Zahl zu senken?

In Deutschland werden die Möglichkeiten einer möglichen Schmerzmedizin nicht ausgenutzt, das ist einmal der mangelnden Kenntnis vieler Behandler über die Möglichkeiten der modernen Schmerzmedizin geschuldet, zum anderen der Verhinderung einer oft sinnvollen Einholung einer Zweitmeinung. Insgesamt ist hier sicherlich Verbesserungspotenzial möglich, damit könnten auch unsinnige, nicht hilfreiche Operationen vermieden werden.

Lassen Sie uns zum Abschluss ein polarisierendes Thema aufgreifen: Mit Aufkommen von TBC-Produkten in den Ladenregalen und der Ankündigung der Bundesregierung, eine Legalisierung von Cannabis auf den Weg zu bringen, ist die Diskussion um die Nutzung der Hanfpflanze wieder aufgeflammt. Seit 2017 dürfen Patienten, auf Kosten der Krankenkassen, Cannabinoide zur Schmerz­linderung nehmen – sofern es keine therapeutische Alternative gibt. Trotzdem verlangen Schmerzpatienten eine weitere Öffnung der Therapie mit diesem Wirkstoff. Wie sehen Sie das Thema als Schmerzmediziner und Vizepräsident der DGS?

Die Cannabis-Therapie ist eine Behandlungsoption, sie ist als Add-on-Therapie zu sehen, d. h., neben den schon verabreichten Schmerz­mitteln könnte eine zusätzliche Gabe von Cannabinoiden den Schmerz positiv beeinflussen.

Man muss wissen, dass bei der Hanfpflanze nur die weibliche Blüte des Hanfes psychotrope Wirkstoffe enthält. Cannabinoide sind kein einheitliches Therapiemittel, sondern bei den Cannabinoiden muss individuell aus rund 200 Inhaltsstoffen ausgewählt werden, welches im Einzelfall helfen könnte. Die wissenschaftlichen Daten dazu sind im Augenblick noch spärlich. Auch ist beim Einsatz des Präparates im Voraus nicht sicher, ob es tatsächlich hilft. Zurzeit
muss bei den gesetzlichen Krankenkassen eine Genehmigung eingeholt werden für eine Präparation, deren Nutzen im Vorfeld unklar ist. Es wäre daher sinnvoller, eine Lösung zu schaffen, die eine Bewertung für eine Kostenübernahme schafft, nach einer befristeten Einnahmezeit, zum Beispiel drei Monaten. Nach dieser Zeit könnte dann entschieden werden, ob eine Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen erfolgt oder nicht. Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. hat einen solchen Vertrag mit der AOK Rheinland gemacht, den Selektivvertrag Cannabis, der hoffentlich bald in Anwendung tritt. Zurzeit erleben wir in unserer Region eine organisierte Verantwortungslosigkeit der gesetzlichen Krankenkassen im Umgang mit dem § 31 (SGB V). (Anm. d. Redaktion: § 31 SGB V regelt die Verordnung von Arznei- und Verbandmittel, somit auch den Einsatz von Cannabinoiden.)

Vielen Dank für das Interview, Herr Dr. Binsfeld.