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»Sich selbst zur Entspannung bringen«

natürlich HAMM Herbst 2021 – Seite 14 – Lesezeit: ca. 9 Minuten

Rubrik: Titelthemen

Autor: Lukas Rummeny

Sich selbst zur Entspannung bringen

Wie uns Autogenes Training zur Entspannung bringt

Frühmorgens aufstehen, die Kinder für die Schule fertig machen, schnell eine Tasse Kaffee trinken und schon geht es zur Arbeit, abends nach Hause kommen, eben was essen und kurz zur Ruhe kommen und dann, viel zu spät, ins Bett gehen. Am Wochenende steht der Familienausflug an, der als „Quality Time“ bezeichnet wird. Und immer ist ein Bildschirm an, weil wir „auf Empfang“ sein müssen. – Hört sich entspannt an, oder? Nein? – Richtig, entspannt ist das nicht, aber leider häufig Realität. Viele Menschen ­empfinden zu viel Stress in ihrem Alltag. Auf der Suche nach Entspannung kommen sie daher auf autogenes Training. Diplom-­Psychologin Elisabeth Westhoff von der Deutschen Gesellschaft für Entspannungsverfahren (DG -E) ist Expertin für autogenes Training und bildet Therapeutinnen und Therapeuten aus. Im Interview erklärt sie, warum uns autogenes Training hilft.

Frau Westhoff, was macht autogenes Training für Sie aus?

Mit Anfang 30 litt ich unter anderem an einer sehr hartnäckigen Migräne. Im Rahmen einer Kur nutzte ich das Angebot, autogenes Training zu erlernen. Autogenes Training hat zum Ziel, den Körper in den Ruhemodus umzuschalten. Mir hat diese Art der Entspannung sehr geholfen, den Migräneschmerz zu reduzieren. Nach dem Kuraufenthalt habe ich die Methode auch verwendet, um Erschöpfungen vorzubeugen. Seit dieser Zeit nutze ich autogenes Training in sehr vielen Situationen in meinem Leben. Nicht nur als Unterstützung zur Bewältigung der Anforderungen des Alltags, sondern auch zur Intensi­vierung des Genusses der „schönen Dinge“.

Eine leichte Umschaltung sorgt für Vertiefung des Erlebens, etwa in Kultur oder in der Natur. So ist das Erlebnis eines Konzerts oder die Freude über eine schöne Pflanze, die man im Wald sieht, durch autogenes Training viel intensiver. Die Erfahrungen des ganzheitlichen Genusses mit allen Sinnen bereichern nun schon etliche Jahrzehnte mein Leben. 

Das autogene Training ist für viele Menschen der Einstieg in den Bereich der Entspannungsverfahren. Woran, glauben Sie, liegt es, dass autogenes Training für viele Menschen so attraktiv ist?

Von den wissenschaftlich anerkannten Entspannungsverfahren eignet sich autogenes Training für Menschen, die mental bereit sind, sich auf Entspannung einzustellen. Feine Wahrnehmungen zu gedanklichen Vorstellungen, wie etwa „Ruhe, Schwere und Wärme“, begleiten beim autogenen Training die allmählichen Veränderungen auf der körperlichen Ebene. Sie sind der Weg in die beabsichtigte Entspannungsumschaltung.

Ziel ist, wie bei allen Formen der Entspannung, die Entspannungsreaktion. Gut gelernt, kann sie aktiv in kurzer Zeit abgerufen und genutzt werden. Der gesamte Lernprozess fordert Geduld mit sich selbst. Eine Eigenschaft, die generell sehr nützlich ist. Der spezielle Charme des Verfahrens liegt im Namen. „Autogen“ bedeutet „aus sich selbst heraus“. Jeder kann unabhängig, selbstbestimmt und ohne weitere Hilfsmittel die Fähigkeiten erlernen, die Entspannung in uns auslösen.

Im autogenen Training wird die Entspannungsumschaltung achtsam eingesetzt. Wenn eine Person in einer Situation bei sich selbst erkennt, dass der subjektiv empfundene Stresslevel überhandnimmt, kann die Entspannungs­umschaltung über das autogene Training zu einer Rückgewinnung der eigenen Balance abgerufen werden. 

Was sind häufig genannte Beweggründe, die Sie während Ihrer beruflichen Laufbahn von Menschen gehört haben, die mit dem autogenen Training anfangen?

Der am häufigsten geäußerte Wunsch geht in die Richtung: „Wie werde ich den Stress los?“ Erwähnt wird die Unfähigkeit, abschalten zu können, zur Ruhe kommen zu können und bei großer Alltagsbelastung einschlafen, durchschlafen und generell sich erholen zu können. Auf Nachfragen werden der Verlust von freier Zeit und zu viel Hektik im beruflichen, aber auch im privaten Alltag beklagt. Es fehlt Zeit für die Dinge, die Freude ins Leben bringen.

Wenn Stress häufig die Ursache dafür ist, dass viele Menschen autogenes Training erlernen möchten, stellt sich die Frage, woher der Stress kommt?

Stress an sich ist als Motor für das aktive menschliche Handeln unerlässlich. Generell gilt, das wurde wissenschaftlich herausgefunden, dass sich Lebewesen in ihrer jeweiligen Lebensform mit einer mittleren Stressausprägung „am wohlsten fühlen“ und optimierte Leistungen erbringen. Es ist also nicht der Stress an sich, der viele zum autogenen Training bringt, eher zu viel davon. Deswegen suchen sie nach ­Möglichkeiten, damit umzugehen.

Neben den normalen Kursen für autogenes ­Training gibt es auch entsprechende Angebote für Kinder. Wo liegen die Unterschiede zwischen den Kursen für Erwachsene und denen für Kinder?

Kinder reagieren mit ihrer meist noch natür­lichen Gabe der Fantasie besonders gut auf Geschichten, die Entspannung einleiten und fördern. Diese Fähigkeit wird in den Kursen gezielt genutzt. Für die Leitung bedeutet das, dass die vorgetragenen Geschichten gezielt den Entspannungsreaktionen der Kinder entsprechen müssen.

Meistens sind die Kurse für Kinder Gruppen­angebote. Dazu gehört auch, dass der Raum vorab kindgerecht gestaltet werden muss. Das geschieht am besten mit den Kindern.

Aber auch von der leitenden Person verlangt eine Kindergruppe spezielle Fähigkeiten. Das bedeutet, professionell Leitende müssen persönlich entspannt sein, um das Verfahren des autogenen Trainings vermitteln zu ­können. Das ist generell wichtig im Umgang mit im Hypnoid, also im „Zustand der Versenkung“, sensibilisierten Kindern und Erwachsenen. Selbst entspannt kann die leitende Person auch besser mit Störungen durch Kinder umgehen. Dies gilt ganz besonders bei Kindern, ist aber für Erwachsene von gleicher Bedeutung.

Einen Sonderfall stellt die Einübung von Entspannung, hier autogenem Training, für ganz kleine Kinder dar. Das Erlernen des autogenen Trainings der Kindesmutter oder der Haupt­beziehungsperson ist die Voraussetzung für die erfolgreiche Übertragung des Entspannungszustands auf das kleine Kind. Mutter und Kind werden damit im Hier und Jetzt autogen entspannt.

Sie sind in der Deutschen Gesellschaft für Entspannungsverfahren für die Ausbildung von Therapeutinnen und Therapeuten in Entspannungsverfahren tätig. Welche charakterlichen Eigenschaften zeichnen für Sie eine gute Therapeutin oder einen guten Therapeuten aus?

Ich bin Diplom-Psychologin und seit Jahrzehnten Mitglied und Ausbilderin für Entspannungsverfahren in der Deutschen Gesellschaft für Entspannungsverfahren. Dazu zählt, neben dem autogenen Training, die progressive Relaxation, auch progressive Muskelentspannung genannt.

Zu den speziellen professionellen Eigenschaften zählen eine Reihe von gut eingeübten Fertigkeiten, beginnend mit dem aufmerksamen Zuhören bei der Begegnung mit Klienten und Patienten. Dabei bilden sowohl wissenschaftlich fundiertes Wissen als auch fortschreitende Pflege der Selbsterfahrung der Behandelnden das Fundament für gute Betreuung in den vielfältigen Bereichen der Prävention und Therapie. Mich treiben zudem die Neugier und der ­Wissensdrang zum menschlichen Erleben und Verhalten an. Ich empfinde die „Arbeit“ mit Menschen als sehr erfüllend und bereichernd.

Wer im Berufsfeld Therapie tätig ist, sollte neben seinem professionellen Know-how lebenslang für persönliche Entwicklungen offen sein. Diese eigenen Ressourcen dienen als Hintergrund bei der Begleitung von Menschen, die sich mit der Bitte um Hilfe und Unterstützung an mich ­wenden. Ein guter Grundsatz ist hierbei so viel wie nötig, so wenig wie möglich „minimale vs. maximale Intervention“, wonach den Hilfe­suchenden Hilfe zur Selbsthilfe angeboten wird, wie es für sie oder ihn persönlich angemessen notwendig ist.

Weitere Entspannungsübungen

Vom Büro in die Ferne

  • Wenn Sie vor dem PC sitzen, wenden Sie Ihren Blick regelmäßig vom Bildschirm zum Fenster.
  • Suchen Sie einen Punkt in der Ferne, den Sie genau in den Fokus nehmen können.
  • Wandern Sie von dort aus, mit Ihren Augen, den Horizont entlang. Das beruhigt die Augen.

Diese Übung ist perfekt für Büroarbeiten. Sie hilft, Stress zu vermeiden, und entspannt die Augen.

Stress, fall ab

  • Stellen Sie sich entspannt und gerade hin.
  • Strecken Sie den rechten Arm nach oben.
  • Sammeln Sie gedanklich Ihren Stress in diesem Arm.
  • Lassen Sie den Arm mit einem lauten Seufzer fallen und den Arm dann schlaff hängen.
  • Wiederholen Sie das mit dem linken Arm. Danach mit beiden Armen gleichzeitig.

Wie der Name es sagt, hilft diese Übung, den Stress abfallen zu lassen. Verbinden Sie diese Übung mit bewussten Atemzügen, damit sie noch effektiver ist.

Zwei Minuten

  • Halten Sie Ihre Hände vor das Gesicht und schließen Sie die Augen. Holen Sie sich schöne Erinnerungen in Ihre Gedanken –
    z. B. an den letzten Urlaub.
  • Atmen Sie tief in den Bauch. Halten Sie die Luft an und atmen Sie wieder langsam aus. Das wiederholen Sie für fünf Minuten.
  • Reißen Sie danach, hinter Ihren Händen, Grimassen. Diese sind Gesichtsmuskelübungen und entspannen Ihren gesamten Körper.
  • Nach einigen Grimassen kneten Sie Ihren Nacken durch. Dort verspannen wir uns meist als Erstes, wenn wir Stress haben.
Elisabeth Westhoff

Kurzvita Elisabeth Westhoff

Eigentlich war Elisabeth Westhoff Goldschmiedin und hat es in diesem Beruf bis zum ­Meister geschafft. Ausbildungen zur Heilpraktikerin und in der Verhaltenstherapie haben bei ihr für einen beruflichen Wechsel gesorgt. Im Alter von 50 Jahren nahm Elisabeth Westhoff ein Studium der Psychologie in Bochum auf, das sie 1999 mit Diplom abschloss.

Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Einzel- und Paartherapie, sowie im Bereich der Entspannungstechniken, zu denen auch auto­genes Training gehört. Bereits in den 1980er-Jahren ist Elisabeth Westhoff Mitglied in der Fachgruppe Entspannungsverfahren geworden, die damals noch eine Sektion des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) war. Sie blieb der Gruppe auch nach deren Trennung vom Berufsverband 2009 treu, die seitdem als Deutsche Gesellschaft für Entspannungsverfahren (DG-E) agiert. Elisabeth Westhoff ist Ausbilderin in der DG-E und lehrt angehende Therapeutinnen und Therapeuten in Entspannungsverfahren, wie autogenem Training oder der Muskelentspannung